Aus eigenen Erfahrungen in Unternehmen weiß ich, wie es ist, wenn die oft täglich „propagierten“ Werte und Verhaltensweisen in der Realität nicht erlebt werden. Ich kenne diese Momente, wenn man spürt, dass da irgendwas nicht stimmt oder nicht richtig ist. Wenn in Meetings, bei Entscheidungen oder in der Kommunikation plötzlich dieser Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist, der nicht nur nicht kleiner wird, sondern eher tiefer.
Ich erinnere mich auch gut an die Situationen, in denen es darum ging, diese Missstände anzusprechen. Verbündete zu finden, die die notwendigen Veränderungen im System und auch in der Führung ermöglichen. Und ich fühle den Frust, der entsteht, wenn nichts passiert oder man beiseite geschoben wird, weil es unbequem ist und sich am Ende noch hilfloser und ohnmächtiger vorkommt.
Auch diese Wut, auf sich selbst, dass man es nicht schafft oder auf andere, auf das System. Und gleichzeitig die Angst, dass mit einem selbst etwas nicht stimmen könnte, dass man zu viel verlangt und sich unangemessen verhält.
In den Gesprächen in meiner Praxis spreche ich oft mit Betroffenen, die sich dann auch dafür schämen, weil sie glauben, nicht anpassungsfähig genug zu sein, nicht zu genügen oder einfach nichts wert zu sein. Der Selbstwert sinkt, die Selbstachtung und damit die Leistungsfähigkeit und eine Spirale ist losgetreten, aus der man nur schwer wieder rauskommt.
- Was passiert mit uns in so einem Umfeld?
- Was ist noch erträglich und wann macht es krank?
- Wo reicht es noch, sich abzugrenzen und wann sollte man besser gehen?
- Was ist noch realistisch und wo beginnt der Selbstverrat?
- Warum fällt es uns trotz Unzufriedenheit so schwer, einfach zu gehen?
Der feine Riss: Wenn die Kultur nicht hält, was sie verspricht
Viele Organisationen schmücken sich heute mit Begriffen wie agiles Arbeiten, New Work, Co-Creation, Diversity oder psychologische Sicherheit. Das klingt gut – oft sogar großartig. Aber was passiert, wenn du als Mitarbeitender Tag für Tag etwas anderes erlebst?
Beispiel Co-Creation: Es wird versprochen, dass alle Perspektiven willkommen sind. In Wirklichkeit werden aber Entscheidungen vorstrukturiert, Meinungen eingeholt – aber nicht einbezogen. Feedback wird gedankt, aber selten umgesetzt. Es geht nicht um echte Mitgestaltung, sondern um ein Kontrollritual mit Innovations-Anstrich.
Oder Diversity: Es heißt, bei uns darf jeder Mensch so sein, wie er ist. Aber in der Praxis machen nur diejenigen Karriere, die bestimmten (unausgesprochenen) Normen entsprechen – etwa in Auftreten, Meinung, Auftreten oder Netzwerk.
Kognitive Dissonanz: Wenn das Innen und Außen nicht mehr zusammenpasst
Was in solchen Situationen passiert, ist psychologisch gut untersucht: Es entsteht kognitive Dissonanz. Ein unangenehmer Spannungszustand zwischen dem, was ich glaube und mir erzählt wird – und dem, was ich tatsächlich erlebe. Und diese Spannung bleibt nicht folgenlos.
Denn Menschen sind auf Stimmigkeit angewiesen. Wenn ich mich täglich in einem Umfeld bewege, in dem ich meine Werte nicht leben kann – oder ihnen sogar widersprechen muss, um akzeptiert zu werden – wirkt das auf Dauer wie ein innerer Verschleißprozess.
Die Folgen: Warum es auf Dauer krank machen kann
Kognitive Dissonanz über längere Zeit kann:
- zu emotionaler Erschöpfung führen (Reizbarkeit, Rückzug, Leeregefühl)
- das Selbstwertgefühl untergraben („Bin ich zu sensibel? Liege ich falsch?“)
- körperliche Symptome auslösen (Schlafprobleme, Stresssymptome, psychosomatische Beschwerden, Herz-Kreislauf-Probleme)
- langfristig in depressive Verstimmungen oder Burnout münden
Nicht sofort. Aber schleichend. Und deshalb ist es so gefährlich.
Zwischen Abgrenzung und Abschied: Ein Orientierungsrahmen
🟢 Noch tragbar – Abgrenzung hilft
Du kannst bleiben, wenn du:
- deine Werte noch leben und vertreten kannst – auch wenn es Gegenwind gibt.
- klare Grenzen ziehen kannst, ohne dauerhafte Konflikte oder Selbstverrat.
- Einfluss nehmen kannst, z. B. durch Feedback, Projekte, Haltung im Team.
- deine Gesundheit und Energie nicht dauerhaft darunter leiden.
- du innerlich sagen kannst: „Ich bin bewusst hier – nicht trotz, sondern wegen meiner Haltung.“
Indikator: Du kannst dich aufregen, aber du bist nicht dauerhaft ausgelaugt. Du kannst benennen, was schiefläuft, aber es macht dich nicht sprachlos.
🟡 Kipppunkt – Reflexion nötig
Du solltest innehalten und prüfen, wenn du:
- dich ständig rechtfertigen oder schützen musst, um deine Werte zu leben.
- Zynismus, Frust oder Ohnmacht häufiger werden als Hoffnung.
- emotionale Erschöpfung spürst – z. B. Gereiztheit, Rückzug, Schlafprobleme.
- merkst, dass du nur noch funktionierst, aber nicht mehr mitgestaltest.
- dich dabei ertappst, wie du Dinge schönredest, die dich eigentlich belasten.
Indikator: Deine Energie fließt mehr ins Ertragen als ins Gestalten. Du bleibst aus Gewohnheit, Angst oder Pflichtgefühl – nicht aus Überzeugung.
🔴 Schlussstrich – Selbstschutz hat Vorrang
Du solltest gehen, wenn du:
- dauerhaft gegen deine Werte arbeiten musst.
- dich verstellen oder anpassen musst, um „dazu zu gehören“.
- Grenzüberschreitungen ignoriert, normalisiert oder sogar belohnt werden.
- dein Körper oder deine Psyche warnende Signale sendet – z. B. chronischer Stress, Frust, Wut, Angst, depressive Symptome.
- du merkst: „Ich verliere mich hier.“
Indikator: Der Preis, den du zahlst, ist nicht mehr nur Energie – es ist dein Selbst.
Was darf man realistisch von einem Arbeitgeber erwarten – und wo beginnt Selbstverrat?
Ein Unternehmen muss nicht perfekt sein – es wird nie alle Wünsche erfüllen können. Und niemand hat das Anrecht darauf, dass alle Wünsche erfüllt werden.
Aber man darf erwarten, dass die kommunizierten Werte nicht bloß Fassade, sondern auch maßgeblicher Handlungsrahmen sind.
Und was der Realität entspricht, erkennt man in den täglichen Dingen. Daran, WIE man miteinander umgeht, vor allem dann, wenn es Konflikte gibt, wenn es um übergreifende Zusammenarbeit geht, wenn gegensätzliche Ziele kollidieren, wenn Druck und Stress vorhanden sind… niemand ist perfekt, auch Führungskräfte nicht und einen schlechten Tag haben wir alle.
Also Augen auf, ob es sich um Ausnahmen oder die Regel handelt. Es geht ums WIE und
Wenn du merkst, dass du dich regelmäßig selbst übergehen musst, um im System zu bleiben, beginnt eine Grenze zu verschwimmen: zwischen beruflicher Loyalität und innerem Rückzug aus dir selbst.
Selbstverrat und Selbstverleugnung beginnen dort, wo du nicht mehr sagen kannst, wofür du stehst – weil du dich zu lange anpasst.
Wie erkennt man, ob man noch konstruktiv wirkt – oder sich bereits selbst aufgibt?
Ein guter Gradmesser ist die ehrliche Frage:
„Wieviel Einfluss nehme ich – und wieviel nehme ich einfach nur hin?“ Wenn du zwar Teil des Systems bist, aber immer weniger gestalten kannst oder darfst, wird Mitwirkung zur stillen Mitverantwortung. Du kannst das erkennen an:
- wiederholten Kompromissen gegen deine Überzeugung,
- einer wachsenden inneren Müdigkeit,
- und dem Gefühl, dich selbst nicht mehr im Spiegel zu erkennen.
Sich aufzugeben beginnt nicht laut, sondern leise – mit jedem Tag, an dem du nicht mehr du selbst bist. Es ist ein schleichender Prozess und gerade Menschen aus lange marginalisierten Gruppen haben ein erhöhtes Risiko, hier unter die Räder zu kommen.
Warum fällt es so schwer, trotz Unzufriedenheit zu gehen?
Weil viele von uns tief verinnerlicht haben, dass Durchhalten eine Tugend ist – und Aufgeben ein Scheitern. Dazu kommen Bindung, Angst vor Veränderung, finanzielle Abhängigkeit und der innere Wunsch, doch noch etwas zu bewirken. Oft wird das System sogar noch verteidigt – obwohl es längst nicht mehr trägt.
Die Unzufriedenheit wird rationalisiert – und das System schöngefärbt, um die eigene Ohnmacht nicht spüren zu müssen. Veränderung braucht Mut, aber auch das Vertrauen, dass du selbst es wert bist, auf dich zu hören – auch wenn andere es nicht tun.Und auch hier gilt: Gerade Menschen aus lange marginalisierten Gruppen tendieren eher dazu, die Schuld bei sich zu suchen, den Anspruch an sich selbst höher zu stellen, als den an das System oder die eigenen Führungskräfte.
Was bedeutet Selbstachtung im Kontext von Arbeit?
Selbstachtung bedeutet, sich selbst treu zu bleiben – auch dann, wenn es unbequem ist. Es heißt, Grenzen zu erkennen, sie zu kommunizieren – und gegebenenfalls Konsequenzen zu ziehen, wenn diese dauerhaft missachtet werden.
Es ist die Entscheidung, sich nicht weiter kleinzumachen, um irgendwo hineinzupassen. Selbstachtung ist kein Ego-Trip. Sie ist ein leiser Akt der Würde. Und manchmal ist sie genau der Schritt, der Veränderung möglich macht – für dich und für das System.
Fazit: Es geht um Würde – nicht um Wunschdenken
Wenn du spürst, dass du dich selbst verlierst – in deiner Kraft, in deiner Klarheit, in deiner inneren Wahrheit – dann ist es an der Zeit, genau hinzuschauen. Vielleicht kannst du dich neu positionieren. Vielleicht kannst du noch etwas bewirken. Und vielleicht ist es auch Zeit zu gehen.
Nicht aus Trotz. Sondern aus Verantwortung – dir selbst gegenüber.
Weiterführende Links
- Was sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Burnout & Depression? (nusselt.de)
- Empathie & Abgrenzung: Wie gelingt die Balance zwischen Mitgefühl und Selbstbewahrung? (nusselt.de)
- Perfektionismus vs. Narzissmus: Zwei Seiten derselben Medaille? (nusselt.de)
- Werte-Test: Was sind meine Werte? (einguterplan.de)