Romantische Liebe – wenn Nähe heilt und verletzt

Was Liebe in uns auslöst, warum sie sich verändert und wie wir besser mit ihr umgehen können.
Scrabble tiles spelling 'Liebe' on a wooden table, symbolizing love and language.
Liebe ist eines der intensivsten Gefühle, die Menschen erleben können. Sie kann uns Halt geben – oder völlig aus der Bahn werfen. In der Psychotherapie zeigt sich immer wieder, wie stark das Bedürfnis ist, sich gesehen, verstanden und angenommen zu fühlen – und wie viel Schmerz entsteht, wenn das nicht gelingt.

Dieser Beitrag erklärt, was in Kopf, Körper und Beziehung passiert, wenn wir lieben – und wie sich dieses Wissen therapeutisch nutzen lässt.

Liebe verändert sich – und das ist gesund

Romantische Liebe beginnt oft als Sturm: Euphorie, Nähe, Aufregung. Neurobiologisch lässt sich das als Aktivierung von Belohnungs- und Motivationssystemen beschreiben – vor allem Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin spielen dabei eine Rolle (Fisher et al., 2006). Wir sind auf die geliebte Person fokussiert, die Welt wird schärfer, bunter, bedeutungsvoller.

Mit wachsender Vertrautheit verschiebt sich der Schwerpunkt: Oxytocin und Vasopressin fördern Vertrauen und Bindung. Diese zweite Phase ist ruhiger, aber stabiler. Sie schützt uns langfristig vor Stress und Einsamkeit (Carter & Porges, 2013).

Der Übergang von Leidenschaft zu Vertrautheit ist also kein Verlust – sondern eine Anpassung, die Nähe tragfähig macht.

Warum Nähe so unterschiedlich gelingt

Die Bindungstheorie (Bowlby & Ainsworth) beschreibt, dass wir schon früh lernen, wie sicher oder unsicher Beziehung sich anfühlt.
Diese frühen Erfahrungen prägen, wie wir später Nähe und Distanz gestalten.
In der Forschung unterscheidet man – basierend auf Ainsworth (1978) und Main & Solomon (1986) sowie Bartholomew & Horowitz (1991) – vier grundlegende Bindungsstile:

  • Sicher: Nähe wird als angenehm erlebt. Menschen mit sicherem Bindungsstil können Verbundenheit zulassen, ohne sich selbst zu verlieren. Sie vertrauen darauf, dass Beziehung stabil bleibt, auch wenn es Konflikte gibt.
  • Ängstlich-ambivalent: Nähe ist existenziell wichtig, Distanz löst starke Unsicherheit aus. Diese Menschen suchen viel Bestätigung, reagieren empfindlich auf Rückzug oder Unklarheit – oft, weil sie in früheren Beziehungen inkonsistente Zuwendung erlebt haben. Sie sind häufig sehr feinfühlig und emotional resonant, manchmal aber auch selbstaufopfernd.
  • Vermeidend-distanziert: Nähe wird schnell als einengend erlebt. Solche Menschen schützen sich, indem sie Autonomie betonen und emotionale Abhängigkeit vermeiden. Dahinter steckt meist ein unerfülltes Nähebedürfnis, das sie abspalten („Ich brauch niemanden“), rationalisieren („Beziehungen sind ineffizient“) oder über andere Kanäle leben – etwa Leistung, Arbeit oder Hobbys.
  • Ängstlich-vermeidend (desorganisiert): Hier wirken beide Pole gleichzeitig: ein starkes Bedürfnis nach Nähe und eine tiefe Angst davor. „Ich will Nähe – aber wenn sie kommt, fühlt sie sich gefährlich an.“
    Menschen mit diesem Muster haben häufig traumatische oder stark inkonsistente Beziehungserfahrungen gemacht. Unter Stress neigen sie zu Überflutung oder Dissoziation. Therapeutisch ist das die anspruchsvollste Konstellation, weil Annäherung und Rückzug gleichermaßen bedrohlich erlebt werden.

In Paaren treffen diese Muster oft aufeinander – und dann beginnt ein bekannter Zyklus:
Je mehr einer drängt, desto stärker zieht der andere sich zurück.
Je mehr einer sich entzieht, desto verzweifelter sucht der andere Nähe.
Dieser „Tanz“ ist selten Ausdruck von Charakterschwäche, sondern von Schutzstrategien, die einmal sinnvoll waren – und nun angepasst werden dürfen.

Ein Beispiel aus der Praxis

Ein Paar kommt in die Sitzung:
Er sagt, sie ziehe sich ständig zurück, „wenn’s wichtig wird“.
Sie sagt, er wolle immer „alles sofort klären“.

Wir verlangsamen das Gespräch.
Ich bitte beide, zu spüren, was in diesen Momenten passiert.
Er merkt: Hinter seinem Drang steckt Angst, unwichtig zu sein.
Sie spürt: Ihr Rückzug schützt sie vor Überforderung.

Dann üben wir neue erste Sätze.
Statt: „Du hörst mir nie zu.“
sagt er: „Ich brauche kurz das Gefühl, dass ich dir wichtig bin.“
Und sie antwortet nicht mehr mit Schweigen, sondern: „Ich brauch zwei Minuten, um runterzukommen, dann kann ich zuhören.“

Solche kleinen Veränderungen schaffen Nähe – ohne Druck.
In den Folgesitzungen üben wir weiter – nicht Perfektion, sondern Verbesserung.

Was in Körper und Gehirn passiert

Verliebtheit aktiviert das mesolimbische Belohnungssystem – das gleiche Areal, das auch bei Motivation, Erfolg und Genuss reagiert.
Das erklärt, warum wir in der frühen Phase so viel Energie haben und Risiken eingehen.
Mit der Zeit übernehmen präfrontaler Kortex (Reflexion) und Bindungsnetzwerke (Sicherheit).
Wichtig: Neurowissenschaftlich ist Liebe kein „Hormonrausch“, sondern ein Zusammenspiel verschiedener Systeme, die sich gegenseitig regulieren (Zeki, 2017).

Körperlich wirkt Liebe stabilisierend:
Sie senkt Stresshormone, unterstützt Immunsystem und Herz-Kreislauf.
In seltenen Fällen kann emotionaler Extremstress – etwa bei Trennung – das sogenannte Broken-Heart-Syndrom (Takotsubo-Kardiomyopathie) auslösen, eine vorübergehende Herzmuskelschwäche. Auch das zeigt: Liebe wirkt bis in den Körper.

Wenn Liebe schmerzt

So verbindend Liebe sein kann – sie kann auch verletzen.
Typische Dynamiken, die in Therapie sichtbar werden, sind:

  • Idealisierung: Der andere wird zur Projektionsfläche – bis Realität einbricht.
  • Abhängigkeit: Nähe wird zur Beruhigung, Distanz zur Bedrohung.
  • Co-Abhängigkeit: Einer übernimmt Verantwortung für das emotionale Gleichgewicht des anderen.
  • Verlustangst und Kontrolle: Beide Seiten versuchen, Schmerz durch Kontrolle zu vermeiden – und erzeugen dadurch erst recht Distanz.

In der Therapie geht es nicht darum, diese Muster „wegzumachen“, sondern sie zu verstehen und zu entschärfen.
Hinter jedem dysfunktionalen Verhalten steht ein Bedürfnis – oft nach Sicherheit, Wertschätzung oder Autonomie.

Kleine Veränderungen mit großer Wirkung

Forschung (Gottman & Levenson, 1999) zeigt: stabile Paare haben etwa fünf positive Interaktionen auf eine negative.

Das lässt sich trainieren – nicht mit großen Gesten, sondern im Alltag.
Ein paar Beispiele aus der Praxis:

  • Statt „Wie war dein Tag?“ → „Was war heute überraschend?“
  • Statt „Du verstehst mich nie!“ → „Ich wünsch mir, dass du kurz zuhörst, bevor du antwortest.“
  • Statt „Du bist immer so distanziert!“ → „Ich merk, ich brauch grad mehr Nähe – magst du herkommen?“

Solche Sprachverschiebungen verändern die emotionale Temperatur einer Beziehung messbar.

Warum nicht jede Beziehung alles erfüllen muss

Ein häufiger Druck in modernen Beziehungen entsteht durch die Idee, der oder die Eine müsse alle Bedürfnisse erfüllen: Partner:in, bester Freund, Liebhaber, Seelenverwandter, Therapeut.
Das ist eine Überforderung.
In einer individualisierten Gesellschaft haben sich Beziehungen von sozialen Notwendigkeiten gelöst – aber die Erwartungen sind explodiert.
Manchmal ist also nicht die Beziehung das Problem, sondern das Idealbild, an dem sie gemessen wird.

Liebe gelingt leichter, wenn wir anerkennen, dass kein Mensch alle Rollen erfüllen kann – und dass Nähe auch durch Freundschaften, Familie oder gemeinsames Tun entsteht.

Wie ich in meiner Praxis damit arbeite

Individuell auf das Paar zugeschnitten kombiniere ich Acceptance & Commitment Therapy (ACT), systemische Interventionen, kognitive Verhaltenstherapie und schematherapeutische Elemente.

Oft setze ich gezielt provokative Impulse ein – nicht um zu verletzen, sondern um festgefahrene Muster in Bewegung zu bringen.
Im Mittelpunkt steht dabei die Frage:

„Wie wollen Sie lieben – auch dann, wenn’s schwierig wird?“

Das bedeutet: nicht nur über Gefühle sprechen, sondern sie regulieren, verstehen und bewusst gestalten.
Liebe ist kein Zufall – sie ist ein Lernfeld für Selbstführung.


Fazit

Romantische Liebe ist kein Märchen, aber auch keine bloße Chemie.
Sie entsteht aus biologischen Impulsen, biografischen Prägungen und bewussten Entscheidungen.
Wenn wir sie verstehen, verlieren wir nicht ihre Magie – wir gewinnen Handlungsspielraum.

Gerne unterstütze ich Sie dabei.

Quellenverzeichnis

  • Ainsworth, M. D. S. (1978). Patterns of Attachment: A Psychological Study of the Strange Situation. Lawrence Erlbaum.

  • Bartholomew, K., & Horowitz, L. M. (1991). Attachment styles among young adults: A test of a four-category model. Journal of Personality and Social Psychology.

  • Bowlby, J. (1988). A Secure Base: Parent-Child Attachment and Healthy Human Development. Basic Books.

  • Carter, C. S., & Porges, S. W. (2013). The biochemistry of love. EMBO Reports.

  • Fisher, H. E., Aron, A., & Brown, L. L. (2006). Romantic love: A mammalian brain system. Philosophical Transactions of the Royal Society B.

  • Gottman, J. M., & Levenson, R. W. (1999). What predicts change in marital interaction? Family Process.

  • Main, M., & Solomon, J. (1986). Discovery of an insecure–disorganized/disoriented attachment pattern. In T. B. Brazelton & M. Yogman (Eds.), Affective Development in Infancy.

  • Zeki, S. (2017). The neurobiology of love. FEBS Letters.

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