Verhaltensänderung & Identität: Warum echte Veränderung wackelt

Verhaltensänderung betrifft nicht nur das Verhalten, sondern auch das Selbstbild. Wie echte Veränderung Identitätskrisen auslösen kann und was hilft.
Mann blickt in gespiegeltes Selbstbild mit Rissen – Symbol für Identitätswandel

Verhaltensänderung ist ein zentrales Thema in meiner Arbeit als Heilpraktiker für Psychotherapie. Viele Menschen kommen mit dem Wunsch, alte Muster zu durchbrechen, gesündere Gewohnheiten zu etablieren oder sich von belastenden Verhaltensweisen zu lösen.

Doch im Verlauf dieses Prozesses taucht immer wieder ein spannendes Phänomen auf:
Die eigene Identität gerät ins Wanken – und das kann verunsichern oder sogar zu einer kleinen Krise führen.

Was passiert bei echter Veränderung?

Verhalten ist mehr als bloßes Tun. Es ist eng mit unserem Selbstbild, unseren Werten und Überzeugungen verknüpft. Wenn wir uns verändern, stellen wir oft nicht nur unser Verhalten, sondern auch unser inneres Bild von uns selbst infrage.

Wer bin ich, wenn ich nicht mehr die „Schüchterne“, der „Perfektionist“ oder die „immer Hilfsbereite“ bin?

Solche Fragen können Unsicherheit, Orientierungslosigkeit oder sogar Angst auslösen – besonders dann, wenn unsere bisherigen Verhaltensweisen eng mit Zugehörigkeit, Selbstwert oder Kontrolle verknüpft waren.

Identitätskrise als Entwicklungschance

Diese Phasen sind nicht nur normal – sie sind oft ein Zeichen dafür, dass sich wirklich etwas bewegt.
Die Psychologie spricht hier von sogenannten Identitätskrisen:
Phasen, in denen unser Selbstbild ins Wanken gerät, weil alte Rollen und Muster nicht mehr passen – und das Neue noch nicht fest verankert ist.

Das kann sich anfühlen wie ein Vakuum: Man funktioniert nicht mehr wie früher, weiß aber auch noch nicht, wer man jetzt stattdessen ist.

Warum das so herausfordernd ist

Unser Gehirn liebt Sicherheit und Vorhersagbarkeit. Selbst belastende Verhaltensweisen geben Halt – einfach, weil sie vertraut sind.
Veränderungen, die das Selbstbild betreffen, werden als Risiko erlebt. Deshalb reagiert unser inneres System manchmal mit Widerstand, Rückzug oder emotionaler Überforderung.

In meiner Arbeit hilft oft ein einfaches Modell, um diesen Prozess zu verstehen:

Die sechs Phasen der Identitätsirritation bei Verhaltensänderung

  1. Ausgangszustand
    → Stabilität durch vertraute Muster – selbst wenn sie dysfunktional sind

  2. Erste Infragestellung
    → Zweifel entstehen, Veränderungswunsch wächst

  3. Irritation & Dissonanz
    → Das Selbstbild beginnt zu wackeln, Ambivalenz steigt

  4. Krise & Leere
    → Identitätsvakuum, Verunsicherung, Rückfallgefahr

  5. Neuorientierung
    → Erste neue Narrative, Werte und Verhaltensideen entstehen

  6. Integration
    → Alte und neue Selbstanteile verbinden sich

Wie ACT durch Wandel begleitet

In meiner Praxis arbeite ich mit einem verhaltenstherapeutischen Ansatz und beziehe Elemente der ACT (Acceptance and Commitment Therapy) mit ein. Diese helfen, Identitätswandel nicht nur kognitiv, sondern auch emotional zu begleiten:

  • Akzeptanz
    Veränderung darf unsicher, widersprüchlich und auch mal unbequem sein.

  • Kognitive Defusion
    Gedanken wie „Ich bin halt so“ als mentale Konstrukte erkennen – nicht als Identität.

  • Selbst-als-Kontext
    Wir sind nicht unsere Gedanken oder Rollen – sondern mehr als das, was wir gerade fühlen oder denken.

  • Wertearbeit
    Wenn alte Muster wegfallen, braucht es Orientierung. Werte geben Richtung, ohne zu begrenzen.

  • Engagiertes Handeln
    Auch kleine Schritte im Einklang mit den eigenen Werten stärken das neue Selbstbild.

Wenn das Selbstbild stur bleibt: Wie die provokative Therapie Bewegung schafft

Manche Selbstbilder sind zäh. Nicht, weil sie besonders wahr sind – sondern weil sie sich so schön bequem eingerichtet haben.
In solchen Momenten hilft manchmal kein weiteres Erklären – sondern ein liebevoller Schubs:
Die provokative Therapie nach Frank Farrelly setzt genau hier an.

Sie arbeitet mit Humor, Konfrontation, Spiegelung – und bleibt dabei stets wertschätzend.
Sie nimmt das Problem ernst, aber nicht die Verstrickung darin.

🗣️ „Ach, Sie wollen sich verändern – aber bitte ohne Risiko, Verunsicherung oder Anstrengung? Das ist natürlich ein realistischer Plan!“

Diese spielerische Übertreibung schafft Distanz zum bisherigen Selbstbild – und öffnet Raum für neue Perspektiven. Oft hilft gerade das Lachen in der Sitzung, um zu merken:
👉 „So wie ich mich sehe, muss ich gar nicht bleiben.“

Die provokative Therapie ist dabei kein „Scherzprogramm“, sondern ein hochwirksamer Zugang, um festgefahrene Selbstbilder zu lockern und Veränderung emotional zugänglicher zu machen.

Systemische Perspektive: Verhalten als Beziehungsmuster

Auch aus systemischer Sicht ist Verhaltensänderung nicht nur eine individuelle Entscheidung, sondern eine Bewegung, die in Beziehungssysteme hineinwirkt. Verhalten wird hier nicht als Eigenschaft einer Person verstanden, sondern als Teil eines interaktiven Geschehens: Es erfüllt Funktionen innerhalb von Familien, Partnerschaften oder Teams. Wer sich verändert, verändert damit oft auch die Rollen, Erwartungen und Dynamiken in seinem sozialen Umfeld.

Identität wird aus dieser Perspektive nicht allein „in uns“ gebildet, sondern in der Wechselwirkung mit anderen. Sie entsteht durch Spiegelung, Zuschreibung, Abgrenzung und Anerkennung. Wenn also jemand beginnt, sich anders zu verhalten, geraten auch diese sozialen Rückkopplungen ins Wanken. Das erklärt, warum viele Menschen sich während einer Veränderung fremd fühlen oder mit Widerständen konfrontiert sind – nicht nur in sich selbst, sondern auch im Kontakt mit anderen.

Systemisch betrachtet ist eine Identitätskrise deshalb oft nicht nur ein inneres Geschehen, sondern ein Zeichen dafür, dass sich das eigene Beziehungssystem gerade neu sortiert. Das zu verstehen, kann helfen, weniger an sich selbst zu zweifeln – und die eigene Entwicklung im Kontext zu sehen.


Fünf Dinge, die in der Veränderung helfen können:

  1. Akzeptanz
    Unsicherheit ist kein Zeichen von Scheitern – sondern oft ein Signal von echter Bewegung.

  2. Selbstmitgefühl
    Freundlich mit sich selbst zu bleiben, schützt vor Rückzug und innerer Selbstabwertung.

  3. Wertefokus
    Was bleibt, wenn alte Rollen wegbrechen? Deine Werte. Sie geben Richtung und Tiefe.

  4. Geduld
    Veränderung ist ein Prozess, kein Sprint. Selbstbilder wachsen, sie lassen sich nicht „umprogrammieren“.

  5. Unterstützung
    Man muss das nicht allein schaffen. Therapeutische Begleitung hilft, den Wandel einzuordnen – und durchzuhalten.

Mein Fazit

Verhaltensänderung ist mehr als „etwas anders machen“. Sie betrifft unser Selbstbild – manchmal tief.
Und wenn sich dieses Bild verändert, fühlt sich das nicht selten wie ein Verlust an.

Aber es ist ein produktiver Verlust:
Der Abschied von einem alten Selbstverständnis – und der Beginn einer neuen inneren Beziehung zu sich selbst.

Ob klassisch-verhaltenstherapeutisch, mit ACT, systemisch oder humorvoll-provokativ:

In meiner Praxis begleite ich durch diese Phasen – mit Klarheit, mit Haltung und mit einem tiefen Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit jedes Menschen.


Weiterführende Links

Nach oben scrollen
Skip to content